
Gewissensfreiheit, absolute
Die absolute Gewissensfreiheit („liberté absolue de conscience“) ist ein unveräußerliches Prinzip der liberalen Freimaurerei, insbesondere in der Tradition des Grand Orient de France (GOdF). Sie räumt jedem Individuum das Recht ein, seine eigenen Überzeugungen und Glaubenssysteme frei zu wählen und zu praktizieren, ohne durch Dogmen, äußeren Zwang oder verbindliche Glaubenssätze eingeschränkt zu werden. Dieses Prinzip impliziert die Freiheit, religiös, atheistisch, agnostisch oder keiner spezifischen Weltanschauung zu sein. Die liberale Freimaurerei versteht die absolute Gewissensfreiheit nicht nur als individuelles Recht, sondern auch als Grundvoraussetzung für eine offene und tolerante Gesellschaft. Sie fördert den freien Gedankenaustausch und die kritische Reflexion und schafft in ihren Logen einen Raum für Dialog und kritische Reflexion auf der Basis der konsequenten Achtung individueller Standpunkte.
1. Historische Entwicklung: Von der Toleranz zur Adogmatik
1.1 Die „Alten Pflichten“ (1723): Ein Fundament der Toleranz
Die Wurzeln der freimaurerischen Toleranz liegen im England des frühen 18. Jahrhunderts. Die „Alten Pflichten“ („The Constitutions of the Free-Masons“), verfasst von James Anderson und 1723 von der ersten Großloge von London veröffentlicht, bilden ein Fundament der freimaurerischen Prinzipien. Darin heißt es im Artikel 1, der überschrieben ist mit „Von Gott und der Religion“:
„Ein Maurer ist durch seine Mitgliedschaft gehalten, dem Sittengesetz zu gehorchen; und wenn er die Kunst recht versteht, wird er weder ein engstirniger Gottesleugner, noch ein bindungsloser Freigeist sein. […] so hält man es heute für ratsamer, sie nur zu der Religion zu verpflichten, in der alle Menschen übereinstimmen und jedem seine besondere Meinung zu lassen.“
Dieser Passus etablierte ein für die damalige Zeit bemerkenswertes Maß an religiöser Toleranz innerhalb der Logen.
1.2 Die Aufklärung und die französische Freimaurerei
In Frankreich entwickelte sich, beeinflusst von den Ideen der Aufklärung, eine liberalere Strömung, wie sie Pierre Chevallier in seinem Werk „Histoire de la franc-maçonnerie française“ (1974) detailliert beschreibt. Diese Strömung betonte zunehmend die individuelle Freiheit, die Trennung von Staat und Kirche und die Bedeutung der Vernunft. Der GOdF, gegründet 1773, wurde zum Kristallisationspunkt dieser liberalen Tendenz in Frankreich.
1.3 Der Konvent von 1877: Ein Wendepunkt und die Rolle von Frédéric Desmons
Das Jahr 1877 markiert einen entscheidenden Wendepunkt. Auf dem jährlichen Konvent des GOdF in Paris wurde nach intensiven Debatten die Verpflichtung zum Glauben an die Existenz Gottes aus der Konstitution des GOdF gestrichen. Die Protokolle dieses Konvents, insbesondere die Reden und Interventionen von Bruder Frédéric Desmons, einem protestantischen Pfarrer und überzeugten Verfechter der Laizität, zeigen die Beweggründe und die Tragweite dieser Entscheidung.
Desmons argumentierte, dass die Beibehaltung des Gottesbezugs in der Konstitution die Gewissensfreiheit der Mitglieder einschränke und dem Prinzip der absoluten Toleranz widerspreche. Er plädierte für eine Freimaurerei, die sich auf die Moral und die menschliche Solidarität konzentriert, ohne metaphysische Voraussetzungen zu fordern. In seiner Rede vor dem Konvent sagte Desmons:
„Wir fordern die Streichung dieser Formel, weil sie der Versammlung unnötige Verlegenheit bereitet [...]; weil sie eine Doktrin zu postulieren scheint, die mit dem Recht jedes Freimaurers, die Freiheit seiner eigenen Meinung, seiner eigenen Überzeugungen zu haben, unvereinbar ist.“
Der Konvent folgte schließlich Desmons' Argumentation und strich den Gottesbezug. Diese Entscheidung war kein Bekenntnis zum Atheismus, sondern eine bewusste Entscheidung für die Adogmatik, um die „liberté absolue de conscience“ zu gewährleisten. Der GOdF überließ es fortan seinen Mitgliedern, ob und welche Schlüsse diese aus der Symbolik und dem freimaurerischen Gedankengut zogen. In den Versammlungen des GOdF wurde der „Große Baumeister des Universums“ nicht mehr angerufen, und es lag kein „Buch des heiligen Gesetzes“ mehr auf dem Altar. Diese Reform machte den GOdF zum Vorreiter einer adogmatischen Freimaurerei, die die „liberté absolue de conscience“ in den Mittelpunkt stellte.
1.4 Der „Appel de Strasbourg“ (1961) und CLIPSAS: Ein Bekenntnis zur „liberté absolue de conscience“
Der „Appel de Strasbourg“ vom 22. Januar 1961, unterzeichnet von zwölf europäischen Freimaurer-Obödienzen, darunter auch der GOdF, bekräftigte das Bekenntnis zur absoluten Gewissensfreiheit auf internationaler Ebene. In diesem Appell heißt es:
„Die Freimaurer [...] proklamieren die absolute Gewissensfreiheit als ein fundamentales Menschenrecht und lehnen jede Einschränkung dieses Rechts ab.“
Die Unterzeichner grenzten sich damit explizit von der Freimaurerei ab, die weiterhin den Glauben an ein „Supreme Being“ voraussetzt.
Im selben Jahr wurde das Centre de Liaison et d'Information des Puissances maçonniques Signataires de l'Appel de Strasbourg (CLIPSAS) gegründet. CLIPSAS versteht sich als internationale Organisation liberaler und adogmatischer Freimaurerlogen, die die im Appell von Straßburg formulierten Prinzipien, insbesondere die absolute Gewissensfreiheit und die Ablehnung von Dogmatismus, hochhalten. Die Gründung von CLIPSAS war eine Reaktion auf die als restriktiv empfundenen Anerkennungspraktiken der von der United Grand Lodge of England (UGLE) anerkannten Freimaurerei.
2. „La liberté absolue de conscience“: Anspruch und freimaurerische Praxis
Die liberale Freimaurerei versteht die „liberté absolue de conscience“ als ein umfassendes Recht, das sich in folgenden Aspekten manifestiert:
Adogmatismus: Es gibt keine verbindlichen Glaubenssätze. Die Mitglieder sind frei in ihrer Weltanschauung und in ihrer Interpretation der freimaurerischen Symbole und Rituale.
Offenheit für alle: Die Logen stehen Menschen aller religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen offen, explizit auch Atheisten und Agnostikern.
Freier Diskurs: In den Logen soll ein offener, von gegenseitigem Respekt getragener Diskurs über weltanschauliche, ethische und gesellschaftliche Fragen stattfinden.
2.1 Innere Spannungsfelder: Die Grenzen der „Absolutheit“
Wertefundament und Toleranzparadox: Auch die liberale Freimaurerei bekennt sich zu den Werten der Aufklärung, der Menschenrechte und der Demokratie. Die Einhaltung dieser Werte wirft die Frage auf, wie mit Mitgliedern umzugehen ist, deren Überzeugungen mit diesen Grundwerten kollidieren.
Die Rolle von Symbolen und Ritualen: Die freimaurerische Symbolik und die Rituale sind in eine Tradition eingebettet, die zwar unterschiedlich interpretiert, aber nicht völlig ignoriert werden kann, ohne den spezifisch freimaurerischen Charakter der Logenarbeit zu verlieren.
2.2 Die Vielfalt der liberalen Freimaurerei: Jenseits des GOdF
Neben dem GOdF existieren weitere liberale und adogmatische Obödienzen, wie die Fédération française du Droit Humain, die Grande Loge Féminine de France, die Grande Loge Mixte de France und andere, die jeweils eigene Schwerpunkte setzen und die „liberté absolue de conscience“ unterschiedlich interpretieren.
3. Externe Kritik: Von der Ablehnung zur differenzierten Betrachtung
Katholische Kirche: Die katholische Kirche hat die Freimaurerei stets abgelehnt und betrachtet sie als unvereinbar mit dem katholischen Glauben.
Von der UGLE anerkannte Freimaurerei: Die von der UGLE anerkannte Freimaurerei, die den Glauben an ein „Supreme Being“ fordert, kritisiert den Adogmatismus liberaler Obedienzen als Abkehr von den traditionellen Grundprinzipien, den sogenannten „Landmarks“.
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