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Drei Siebe des Sokrates

Ein Kommunikationsmodell in der Tradition kritischer Reflexion


Die „Drei Siebe des Sokrates“ beschreiben ein Kommunikationsmodell, das dem griechischen Philosophen Sokrates (469–399 v. Chr.) zugeschrieben wird. Obwohl die Geschichte der drei Siebe nicht in Sokrates’ eigenen Schriften oder zeitgenössischen Quellen überliefert ist, sondern erst in späteren Erzählungen auftaucht, spiegelt sie den Geist seiner Philosophie der kritischen Reflexion wider und hat sich als einprägsames Modell für ethische Kommunikation etabliert. Es handelt sich hierbei um eine moderne Legende, die sich auf den Ruf des Sokrates als weisen Philosophen stützt, aber keine direkte Verbindung zu seinen überlieferten Lehren hat.


Die drei Fragen der Reflexion

Das Modell fordert dazu auf, Informationen durch drei gedachte Siebe zu prüfen, bevor man sie weitergibt. Diese drei Siebe sind als Fragen formuliert:

  1. Wahrheit: Ist das, was ich sagen möchte, wahr? Gibt es Belege oder Beweise für die Richtigkeit der Information?

  2. Güte: Ist es gut, was ich sagen möchte? Ist die Information wohlwollend und konstruktiv? Trägt sie zur Verbesserung der Situation bei oder könnte sie Schaden anrichten oder unnötige Unruhe stiften? Im antiken Griechenland war der Begriff der „Güte“ eng mit dem Konzept der Arete verbunden, das sich auf Vortrefflichkeit, Tugendhaftigkeit und das Streben nach einem gelungenen Leben bezog. „Gut“ zu sein bedeutete, im Einklang mit den Tugenden der Weisheit, der Gerechtigkeit, der Tapferkeit und der Mäßigung zu leben.

  3. Notwendigkeit: Ist es notwendig, dass ich das sage? Trägt die Information relevant zum aktuellen Diskurs bei? Handelt es sich um wirklich Wissenswertes oder nur um eine belanglose Information? Der Begriff der „Notwendigkeit“ bezog sich im antiken Griechenland sowohl auf das Gemeinwohl als auch auf die individuelle Erkenntnis. Philosophen wie Platon und Aristoteles betonten die Wichtigkeit der Phronesis, der praktischen Klugheit, die es dem Einzelnen ermöglicht, in konkreten Situationen das Richtige zu tun und zum Gemeinwohl beizutragen.


Historische Einordnung und Kritik

Die Geschichte der drei Siebe ist ein prägnantes Beispiel für die sokratische Methode der Maieutik. Diese zielt darauf ab, durch gezielte Fragen verborgenes Wissen im Gesprächspartner freizulegen und so zu wahrer Erkenntnis zu gelangen. Die drei Siebe können als ein Werkzeug verstanden werden, das in diesem Prozess die hervorgebrachten Gedanken filtert, auf ihre Qualität prüft und den Erkenntnisprozess strukturiert.

Die Zuschreibung des Modells an Sokrates ist jedoch historisch nicht gesichert. Es gibt keine Belege dafür, dass die Geschichte in antiken Quellen vor dem 19. Jahrhundert erwähnt wird. Die „Drei Siebe“ sind daher eher als ein populäres, Sokrates’ Ruf als weiser Philosoph nutzendes Bild zu verstehen, denn als ein authentisches sokratisches Modell.

Kritiker verweisen zudem auf die subjektive Auslegung der Begriffe „gut“ und „notwendig“. Die vage Natur dieser Kriterien eröffnet ein erhebliches Missbrauchspotenzial. Die subjektive Natur der Kriterien „gut“ und „notwendig“ birgt die Gefahr, dass sie zur Rechtfertigung von Zensur oder zur Unterdrückung unangenehmer Wahrheiten missbraucht werden können. So könnten die drei Siebe dazu verwendet werden, unliebsame Wahrheiten zu unterdrücken, wenn sie als „nicht gut“ oder „nicht notwendig“ deklariert werden. Ebenso könnten sie zur Rechtfertigung der Verbreitung von Falschinformationen dienen, wenn diese als „gut“ im Sinne einer bestimmten Ideologie oder „notwendig“ im Sinne eines bestimmten Ziels dargestellt werden. Eine kritische Anwendung der drei Siebe erfordert daher stets eine sorgfältige Abwägung der eigenen Motive und eine Reflexion über die möglichen Folgen der Kommunikation. Es ist unerlässlich, sich bewusst zu machen, dass die eigene Einschätzung von „Güte“ und „Notwendigkeit“ durch persönliche Wertvorstellungen, ideologische Prägungen und emotionale Befindlichkeiten beeinflusst sein kann. Die drei Siebe sollten daher nicht als starre Vorschriften, sondern als Denkanstöße für eine selbstkritische und verantwortungsbewusste Kommunikation verstanden werden.



Bezug zu Wahrheitstheorien

Die drei Siebe lassen sich mit verschiedenen Wahrheitstheorien in Verbindung bringen, die jeweils unterschiedliche Aspekte von Wahrheit betonen:

  • Korrespondenztheorie: Eine Aussage ist wahr, wenn sie mit den Tatsachen übereinstimmt.

  • Kohärenztheorie: Wahrheit ergibt sich aus der Widerspruchsfreiheit von Aussagen innerhalb eines Systems.

  • Konsenstheorie: Wahrheit wird durch den Konsens einer Gemeinschaft bestimmt.

In der Anwendung der drei Siebe spiegeln sich diese theoretischen Ansätze wider, wobei die praktische Überprüfung von Aussagen im Vordergrund steht.


Anwendung und Abgrenzung zu anderen Modellen

Die drei Siebe finden im Alltag vielfältige Anwendung und dienen als Reflexionsinstrument für die eigene Kommunikation. Sie helfen, bewusster und verantwortungsvoller mit Informationen umzugehen. In Konfliktsituationen tragen die Siebe zur Deeskalation bei, indem sie zu wohlwollenden und konstruktiven Aussagen anleiten. In Diskussionen hilft das dritte Sieb, den Fokus auf relevante Beiträge zu legen und Informationsüberflutung zu vermeiden.

Im Gegensatz zu philosophischen Systemen wie Kants kategorischem Imperativ oder der Diskursethik sind die drei Siebe kein umfassendes ethisches Modell, sondern ein pragmatisches Werkzeug (eine Heuristik) zur Reflexion über die eigene Kommunikation. Während Kants kategorischer Imperativ eine allgemeine, situationsunabhängige Moral anstrebt, betonen die drei Siebe die individuelle Verantwortung und situative Angemessenheit in der Kommunikation. Die Diskursethik, etwa bei Habermas, fokussiert auf einen idealen, herrschaftsfreien Diskurs, liefert aber auch Regeln für reale Diskurse. Die drei Siebe hingegen betonen die subjektive Reflexion und individuelle Bewertung der Kommunikationssituation. Die Sprechakttheorie, die die verschiedenen Funktionen von Sprache analysiert, bietet eine ergänzende Perspektive zu den drei Sieben und verdeutlicht, dass Sprechen nicht nur eine beschreibende, sondern auch eine handelnde Dimension hat.


Bedeutung für die digitale Kommunikation

Im Zeitalter der digitalen Kommunikation gewinnen die drei Siebe des Sokrates neue Relevanz. Die Schnelllebigkeit und der unreflektierte Austausch von Informationen bergen die Gefahr der Verbreitung von Falschinformationen. In „Echokammern“ bestätigen sich Nutzer in ihren Meinungen und blenden gegensätzliche Positionen aus. Die algorithmische Steuerung von Informationsflüssen auf digitalen Plattformen kann die Anwendung der drei Siebe erschweren, da sie die Wahrnehmung von Wahrheit, Güte und Notwendigkeit beeinflusst und verzerrt. Die drei Siebe helfen, diese Tendenz zu erkennen und ihr entgegenzuwirken, indem sie zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Informationen anregen und den Blick auf alternative Perspektiven öffnen. Im digitalen Raum zeigt sich „Güte“ beispielsweise in einem respektvollen Umgangston, während „Notwendigkeit“ in der Vermeidung von Spam und irrelevanten Kommentaren zum Ausdruck kommt. Während die drei Siebe eine nützliche Reflexionshilfe bieten, sind sie kein Ersatz für eine umfassende Medienkompetenz, die auch die Fähigkeit zur Quellenprüfung, zur Dekonstruktion von Algorithmen und zur kritischen Analyse von Informationsflüssen umfasst. Eine kritische Medienkompetenz, die die Fähigkeit zur Dekonstruktion von manipulativen Techniken und zur Bewertung von Quellen umfasst, ist daher im digitalen Zeitalter unerlässlich, um die drei Siebe effektiv anwenden zu können.


Bedeutung und Ausblick

Die drei Siebe des Sokrates stellen ein zeitloses Modell für eine ethische und reflektierte Kommunikation dar. Die drei Fragen nach Wahrheit, Güte und Notwendigkeit regen zur kritischen Auseinandersetzung mit dem eigenen Sprachgebrauch an und dienen der bewussten Gestaltung von Kommunikationsprozessen. Sie haben das Potenzial, in verschiedenen Bereichen positiv zu wirken, etwa in der Medienerziehung, im Journalismus oder im öffentlichen Diskurs. Die drei Siebe sind jedoch kein Allheilmittel und sollten im Kontext weiterer medienpädagogischer Ansätze und ethischer Reflexionen betrachtet werden. Sie können einen Beitrag zur Medienerziehung leisten, indem sie Schüler und Jugendliche dazu anregen, Informationen kritisch zu hinterfragen und Quellen zu bewerten. Im Journalismus können die Siebe als Reflexionshilfe dienen, ersetzen aber nicht die sorgfältige Recherche, Quellenprüfung und die Berücksichtigung journalistischer Standards.

Die zukünftige Forschung könnte sich mit der Frage beschäftigen, wie die drei Siebe des Sokrates in verschiedenen Kontexten konkret angewendet, evaluiert und weiterentwickelt werden können, auch angesichts der Herausforderungen der digitalen Kommunikation und der zunehmenden Bedeutung von künstlicher Intelligenz bei der Erstellung und Verbreitung von Informationen.

Drei Siebe des Sokrates

Begriff

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